Peraindorns Weihegang
Aus dem Leben eines Rondranovizen am Sichelstieg 

Der Wind trieb Schneekristalle ins Gesicht von Wulfensforst. Wie hunderte Nadeln stachen sie in das warme Fleisch. Kaum konnte er sein Auge aufhalten. Wieder einer der Nächte an denen der Herr Firun mit seinen Atem anscheinend jedes Leben zu erfrieren gedachte.
Es war ein langer Tag gewesen und die Anstrengungen all dieser Stunden steckten ihm noch in den Knochen und doch war es noch nicht Zeit zu ruhen.
Er hatte die erste Nachtwache übernommen. Bisher hatten sie noch keinen Angriff abwehren müssen, aber bei den Feinden konnte man sich selbst hier auf dem eingeschneiten Sichelstieg nicht sicher sein. Ihre Kräfte kümmerten sich auch sonst nicht um irgendwelche natürlichen Begebenheiten. Warum sollte sie der Winter aufhalten?
ER schüttelte den Kopf. Was für Gedanken! Sein Lehrmeister hatte die richtige Wahl getroffen und daran gab es nichts zu rütteln. Menschliche Gegner würden sicherlich nicht hier heraufkommen und andere Wesenheiten würden nun auf Gegner stoßen die sie nicht erwartet hätten. Alles war richtig an diesem Plan, denn es galt hier nicht in der Sicherheit des Winters zu lagern, sondern die Bollwerke des Glaubens zu verstärken, denn gerade diese waren es, die dem Feind zu schaffen machten. Ihr Platz war hier. Kein Zweifel.
Er zog die Schultern hoch, griff mit kalter Hand nach dem Schal, der sich von seiner Befestigung gelöst hatte, zog den feuchten Stoff wieder über seine untere Gesichtshälfte und versuchte mit klammen Fingern diesen wieder am Helm festzumachen, als...
"Mutter?"
Mitten in der Bewegung verharrte Peraindorn. Dort. Direkt vor ihm aus dem weißen Treiben des Schnees hatte er eine Stimme vernommen. Die schwache Stimme eines Kindes...
Dies konnte nicht sein. Er musste sich getäuscht haben, oder?
"Mutter. Wo bist du? Es ist so kalt..."
Bei den Göttern! Es war ein Kind! Wie kam es hierher? Waren Flüchtlinge diesen gefährlichen Weg gegangen? Dies war einfach nicht möglich. Niemand konnte bei diesem Sturm den Weg gehen und doch waren sie hier. Hatte er die Stimme gehört.
"Hierher! Komm hierher Kind!"
"Mutter... Es ist so kalt hier..."
Da! Eine Bewegung in der wirbelnden Wand vor ihm. Ein kleiner Körper schälte sich aus der Masse des Schnees, taumelte auf den wartenden Krieger zu. Ein Kind. Ein Mädchen. Ihr langes blondes Haar lag nass auf ihren Schultern. Die Kleidung über und über mit Schnee und Eis bedeckt. In ihren Händen hielt sie eine Stoffpuppe, die sie fest an ihren Körper gedrückt hielt. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie den Krieger an und mit einem Mal wurde diesem bewusst welchen Eindruck er bei diesem Kind machen musste. Schnell löste er den Riemen seines Helms und nahm diesen von seinem Kopf, während er in die Knie ging.
"Keine Angst. Ich tue dir nichts. Du bist in Sicherheit."
Sie sah ihn an. Ihre Augen fixierten den Mann genau, der da vor ihr kniete, aber sie kam keinen Schritt näher. 
"Nein. Keine Sicherheit... Warum habt ihr mich verlassen? Keinen Frieden ..." Mit diesen Worten verschwand sie. Verschwand, als wäre sie nie da gewesen.
Wie vom Donner gerührt kniete Wulfensforst immer noch im Schnee und diesmal war es nicht die Kälte des Windes die ihn frösteln ließ.
"Hilf uns..."
Eine Hand löste sich schemenhaft aus dem Wehen des Sturmes vor ihm, dort, wo das Kind verschwunden war. Er blickte zurück. Sollte er seine Kameraden holen? Dazu würde ihm keine Zeit bleiben. Nur er war hier und er musste sich entscheiden. So setzte er seinen Helm wieder auf und folgte dem Kind in das Treiben des Schnees hinein. Dies war sein Platz...
Wie lange er gewandert und wie weit er während dieser Zeit gekommen war konnte er nicht sagen, doch dann stand das Mädchen wieder vor ihm. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht und ihr ausgestreckter rechter Arm deutete nach vorne.
"Mutter. Und all die anderen." Sie wandte ihr Antlitz dem Krieger zu. Peraindorn zuckte zusammen, als er in die Fratze des Todes blickte. Ein von der Kälte mumifiziertes Gesicht. Die Augen lagen getrocknet tief in den Höhlen. Lederartige Haut spannte sich über die Wangenknochen, die sich spitz darunter abzeichneten. "Wirst du uns verlassen?"
Es kostete ihn Überwindung, aber die Jahre des Kampfes gegen den Feind im Osten hatten ihn schon einiges abverlangt. 
"Ich bleibe."
"Aber es wird nicht wollen das du bleibst."
"Es?"
"Es hat Mutter und all die anderen mitgenommen. Sie ließen mich allein..."
"Ist es noch hier?
"Ja."
Wulfensforst nickte. Dies war sein Platz.
"Dein Wille, oh Herrin, sei mein Befehl." Noch bevor er den ersten Schritt tat, zog er sein Schwert. Etwas im Schneetreiben vor ihm knurrte wie ein hungriger Wolf. "Siehe, ich bin gekommen um dir zu entreißen was du unrechtens genommen hast! Gib frei, was den Göttern gehört!"
Ein Hieb ließ ihn zu Boden gehen. Etwas zerriss den Umhang den er trug. Kälte bohrte sich in seinen Rücken, dann wurde er empor gehoben. Schnell drehte er die Klinge umfasste den Griff mit beiden Händen und trieb den Stahl mit Wucht nach unten, knapp an seiner Seite entlang.
Sein Gegner heulte auf, entließ ihn aus seinem Griff und er landete unsanft auf dem harten Felsen. Wieder trieb Kälte in seinen Körper. Klauen aus Eis schienen seine Schulter zu durchdringen. "Herrin! Hilf!" 
Verletzt sprang er auf. Das Bild des Mädchens brannte in seinem Herzen, entfachte heiligen Zorn und diese Flamme fraß sich durch seinen Körper. Ließ ihn die Schmerzen vergessen machen. Sein Lehrmeister...
Er sah Asquirion vor sich, wie ihm dieser bei den Schwertübungen den Kodex der Ritterschaft beibrachte. "... Seine Klinge verteidigt die Hilflosen..." Das Wesen vor ihm brüllte schmerzerfüllt auf. Dieser Streiter floh nicht. Wich nicht...
Schlag um Schlag folgte. Wie in Trance focht Peraindorn. Seine Augen konnte nie mehr als Umrisse wahrnehmen. Vier Augen aus Eis. Klauen, bläulich schimmernd. Ein weißes Fell.
Dann erlahmte sein Arm. Zu viel Treffer hatte er hinnehmen müssen. Schwer sank er auf die Knie. Vor ihm hörte er ein Siegesgeheul und dann erkannte er, durch die nahende Ohnmacht schon in weite Ferne gerückt, Feuer. Er lächelte, denn ein altes Lied kam ihm in den Sinn, das er in Greifenfurt gehört hatte, als sie dort gegen die Orks gekämpft hatten.
" Und so stehen wir in Treue zusammen
Und uns trennt weder Kummer noch Not
Denn der Götter o heilige Flammen
Leuchten uns auf dem Weg in den Tod..."
So war es also... Dunkelheit umfing seine Sinne.

"Peraindorn! Auf die Beine. Komm."
Er kannte die Stimme...
"Asquirion?"
"Der Göttin sei Dank. Wir kamen also rechtzeitig."
"DIE BESTIE!" Er richtete sich auf, wollte sich erheben, doch sein Lehrmeister drückte ihn sanft, aber mit Nachdruck zurück.
"Vernichtet. Sie starb unter den Hieben meiner treuen Klinge. Und nun auf, sonst stirbst du noch an der Kälte."
"Das Kind... Es müssen noch andere hier sein. Die Bestie hat sie geholt."
"Aaron hat sie entdeckt. Dort drüben."
Mit der Hilfe seines Meisters konnte er die Stelle erreichen, wo der Angroscho stand und dabei war mit einem Rabenschnabel Eis zu zerteilen um die festgefrorenen Körper aus dieser Umklammerung befreien.
Dort lagen sie, aber so sehr Peraindorn auch suchte, das Kind konnte er nicht sehen.
"Sie muss hier sein."
"Wer?"
"Das Mädchen, welches mich hierher geführt hatte. Es muss..." Seine Augen weiteten sich, als er hinter Asquirion eine Bewegung erkannte. Dort ging das Kind. Nun war er es, der seinen Meister mit sich zog, bis sie nach einiger Zeit an einem Felsen Halt machten. Dort war ein Spalt. Für einen Menschen zu klein, aber für Aaron gerade richtig.
Auf Zurufen von Wulfensforst machte er sich auf und zwängte sich in das Innere. Es dauerte lange bis er wieder heraus kam, aber er führte ein Bündel mit sich, welches er hinter sich durch den Spalt ins Freie zog.
Ein kleiner Körper. zusammengekauert. Die Haut erschien wie Leder. Fest an sich gepresst hielt das Kind eine Puppe...
"Du bist nicht mehr allein..." Sanft strich er über die spröden Haarreste des Leichnams und Tränen füllten sein Auge. Da war es ihm, als würde eine Hand kurz über seine Wange streichen. Ein Moment der Wärme, nur eine Andeutung in dieser Kälte, aber doch...

M.Gundlach