Der Tod des großen alten Mannes von Arivor
von 
Sußke Meilerbrecher

Seine Eminez Dapifer ter Bredero, Meister des Bundes der Senne das Alten Reiches, Großmeister des Ordens der Heiligen Ardare zu Arivor und Erzherrscher von Arivor ist tot. Er starb am 1. RON des Jahres 31 Hal auf der Löwenburg zu Perricum, wo er seit dem Vorabend der Schlacht an der Trollpforte weilte (siehe AB #82). Mir selbst wurde gestattet an dem Göttinnendienst teilzunehmen, der ihm zu Ehre zwei Tage nach seinem Tod abgehalten wurde. Ich will versuchen das, was ich dort über den großen alten Mann aus Arivor erfahren habe in meinen eigenen, vergleichsweise schlichten Worten so getreu wie möglich wiederzugeben.

Während in halb Aventurien die Vorbereitungen für den Widerstand gegen den Dämonenmeister in vollem Gang waren, konnte auch die greise und von Siechtum gezeichnete Eminenz Dapifer ter Bredero nicht umhin, sich auf den beschwerlichen Weg gen Osten zu machen. Mit einem Schiff der Liebfelder Flotte umschiffte er das Südkap um schließlich auf der anderen Seite des Kontinents in Perricum an Land zu gehen. Derweil waren die tapferen aber verzweifelten Verteidiger der zwölfgöttlichen Länder bereits an der Trollpforte in Stellung gegangen und der Tag der entscheidenden Schlacht war gekommen.
In einer Sänfte wurde Seine Eminenz auf die verlassene Löwenburg getragen, wo bis auf eine Handvoll junger Novizen nur noch die Kalten Weiber einsame Wacht hielten.
Es war der Morgen der Dritten Dämonenschlacht, als sich Seine Eminenz in aller Frühe in die große Andachtshalle des Rondratempels bringen ließ. Angetan mit einem leichten kurzen Kettenhemd und Wappenrock und mühsam einen Fuß vor den anderen setzend, legte er den Weg vom Eingangsportal bis zum Altar ohne fremde Hilfe zurück. Später berichteten die Novizen, daß der greise Meister des Bundes den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht vor dem Altar betete. Sobald die Fackeln im Tempel niederbrannten, wurden sie leise durch neue ersetzt, doch niemand wagte die einsame Gestalt inmitten der gewaltigen dämmrigen Halle anzusprechen.

Erst Wochen nachdem die Schlacht geschlagen war, kehren die ersten Geweihten , die meisten davon verwundet und geschunden, nach Perricum zurück. Nicht nur Perricumer Geweihte bevölkerten nun die Löwenburg, sondern Rondrageweihte aus allen Teilen Aventuriens suchten in der Hochburg des Bundes Heilung und neue Befehle.
Dies war die Zeit, in der Seine Eminenz begann Boten mit versiegelten Schriftstücken auszuschicken. Auch ließ er nun bisweilen nach dem ein oder anderen Geweihten schicken, mit dem alleine er dann viele Stunden Gespräche führte.
Als nach weiteren langen Wochen schließlich auch das Schwert der Schwerter auf die Löwenburg zurückkehrte, wurde sie von ihm noch zur selben Stunde um eine Audienz gebeten - sie dauerte, mit wenigen Unterbrechungen, sechs Tage und Nächte. "Es war,³ beschrieb Ihre Erhabenheit bei der Totenandacht voller Erschütterung, "als hätte er diese Kirche, diesen Bund des Schwertes, in seiner Gesamtheit sehen können - seinen Beginn und sein Werden und Wachsen, alles zugleich. Er konnte Abfolgen von Handlungen und Konsequenzen des Schwertbundes in absoluter, wunderbarer Klarheit erkennen. Als er für uns betete, während wir an der Trollpforte kämpften, da schien seine Seele auf wundersame Weise den Lauf der Geschichte zu erblicken.³ Und nach einem Augenblick bewegten Schweigens fügte sie hinzu: "Ich glaube, er sah mit den Augen Rondras.³

In den nächsten Monaten fuhr Seine Eminenz ter Bredero fort mit dem Briefeschreiben und den unermüdlichen Geprächen. Es war ein reges Kommen und Gehen auf der Löwenburg, und mancher Neuankömmling fand sich unerwartet bei einer Audienz mit dem greisen Meister des Bundes wieder.

Es war zur Mitternachtsstunde des 1. Rondra 31 Hal, als Ayla von Schattengrund, das Schwert der Schwerter, eilig in die Halle des Rondratempels gerufen wurde. Sie betrat die dämmrige Bethalle begleitet von Ucurian, ihrem Leibmeister und Alexis Colon Darios, dem Geweihten des Laienordens vom Zorn Rondras. Die drei hielten verblüfft inne. Vor dem Altar stand kampfbereit und mit gezogenem Schwert Seine Eminenz Dapifer ter Bredero. Den Rücken ihnen zugewand hielt er den Blick fest auf die große Statue im flackernden Zwielicht gerichtet. Erstaunt erkannte Ihre Erhabenheit, daß der greise Mann mit schwerem Kettenmantel und dem vollen Ornat des Meisters des Bundes bekleidet, und sie hub schon zu sprechen an, als schimmerndes silbriges Licht den Geweihten zu umgeben begann. Urplötzlich setzte wilder Schlachtenlärm ein und erfüllte die Halle mit durchdringendem Klang. Doch keine Kämpfer, kein Gefecht war sehen. Allein der greise Meister des Bundes schien einen Gegner zu erkennen, denn mit einem Mal kam Bewegung in die einsame Gestalt vor dem Altar. Mit weiten Hieben schlug er Attacken und Paraden gegen den unsichtbaren Feind, wich aus und rückte vor, als wäre er nicht mehr der siechende Greis, sondern ein kräftiger junger Mann. Lange Minuten währte dieser Kampf und oft sahen die Erhabene und beiden Geweihten Dapifer unter den unsichtbaren Hieben wanken. Da begann der ohrenbetäubende Schlachtenlärm nachzulassen, solange, bis nur noch Dapifers klingende Schwertstreiche und das harsche Rasseln seines Atems zu hören waren. Immer wieder wurde Dapifer von Hieben getroffen, mußte zurückweichen, bis er schließlich mit dem Rücken an der heiligen Statue stand. Mit Schrecken sah die Erhabene sein Gesicht, daß vor Anstrengung schweißnaß und grau geworden war, und sie sah das Zittern seiner Glieder und die weißen Hände, die das Schwert kaum noch zu halten vermochten. Seine Augen blickten in weite Ferne und die Lippen, die sich stumm bewegten, schienen die Worte des heiligen Weihegelübdes zu formen. Mit einem leisen Stöhnen stieß er sich sachte von der Statue ab und hob sein Schwert erneut zur Attacke. Zwei weitere unsichtbare Hiebe ließen ihn wanken, doch dann fuhr seine Klinge nieder, zerschnitt flirrende Luft und für Augenblicke sah man seinen Gegner, durchscheinend wie ein Trugbild, vor ihm zu Boden sinken.
Ein jäher Luftzug durchfuhr die Halle und ließ die Fackeln hell auflodern. Der silbrige Schein war von Dapifer gewichen, und noch bevor die Erhabene zu ihm stürzen konnte, war er bereits nach Atem ringend vor dem Altar zusammengesunken. Als das Schwert der Schwerter ihn vorsichtig auf ihren Schoß bettete, fuhr seine bebende Hand an ihren Wappenrock und zog sie zu sich herab. "Sei stets eingedenk deines Namens, Ayla!" Erschöpft sank er zurück. Sein letzter Atemzug verlor sich leise in der Tempelhalle.

Noch lange Augenblicke hielt das Schwert der Schwerter stumm denToten auf ihrem Schoß umarmt, bis ihr Leibmeister sie schließlich mit einer leichten Berührung ihrer Pflichten gemahnte. Am Portal der Tempelhalle hatten sich inzwischen kleine Grüppchen von Geweihten eingefunden, die verhalten zu erfahren suchten, was geschehen war.
Die Erhabene ließ sich helfen, den Toten behutsam auf ihre Arme zu heben, als ein weiterer urplötzlicher Windstoß durch die Halle fuhr. Mit einem Donnergrollen flammte gleißendes Silberlicht auf dem Altar auf und ein Rauschen von ehernen Schwingen erfüllte den Tempel bis in den hintersten Winkel. Das Schwert der Schwerter sah, dem Portal zugewandt, wie die Geweihten in einer einzigen fließenden Bewegung auf die Knie fielen, dann drehte sie sich, den Leichnam Dapifers fest in den Armen, langsam zum Altar um.
In einer Lohe aus schierem Silberlicht schwebte eine Gestalt über dem geweihten Altarstein. Größer als jeder Mensch je werden könnte, mit dem Körper eines Kriegers, gewaltigen Tatzen und dem Haupt eines Tigers. Seinem Rücken entwuchsen silbrigeSchwingen, Drachenschwingen gleich, jedoch mit feinen Schuppen wie Gefieder besetzt. Von dem roten Tigerhaupt züngelten Flammen wie eine Mähne aus Feuer um die Kriegerschultern. Ihr Widerschein reflektierte von jeder Schuppe des Gefieders und von jeder Wölbung des prachtvollen Brustpanzers, von jeder Niete des Streifenschurzes und selbst von den Arm- und Beinschienen spiegelte sich roter Flammenschein. Ein Schlag seiner Schwingen raubte den Menschen vor dem Altar, Ayla, Ucurian und Alexis schier den Atem. Als seine krallenbewehrten Füße den Tempelboden berührten, quoll zischend Dampf empor, und jeder Schritt, den er tat, brannte sich schwarz in die steinernen Platten ein.
Vor den drei Menschen blieb er stehen, den Blick auf dem Leichnam in Aylas Armen ruhend. Und dann betrachtete er die, die den Gefallenen trug und die, die bei ihr standen. Das Grün seiner Augen, gleißender als ein Smaragd je sein könnte, fuhr wie eine Lanze in ihre Seelen, kehrte ihr Innerstes nach außen und entblößte sie vor ihm gänzlich. Sein Blick kehrte zurück zu Ayla, einem bloßen Menschen bar jeglicher Ämter, Titel und Würden. Er öffnete seine Arme und forderte den Gefallenen.
Bis ins innerste Mark bebend trat Alya vor. Ein überwältigendes Aroma von Eisen, Blut und Harz erfüllte ihre Nase und ihren Mund. Sie fühlte die Hitze, die der Kriegerleib ausstrahlte. Sie sah frische Narben auf der bronzefarbenen Haut, sie sah ein besticktes Band, daß um einen der Oberarme gebunden war, sie sah das Gesicht einer Menschenfrau, daß seinen Brustpanzer über dem Herzen zierte. Nahezu ohne Besinnung übergab sie ihm den Leichnam.

So wurde Dapifer ter Bredero, der Jahrzehnte des Siechtums und Leids erdulden mußte und doch nie an der Gnade der Herrin zweifelte, von Dere entrückt, und nicht das geringste seines sterblichen Leibes verblieb mehr in der dritten Sphäre.

Diesen Bericht verfaßte ich nach dem, was Ihre Erhabenheit während der Totenandacht verkündete und nach Berichten von Geweihten, die selbst Augenzeugen gewesen waren.
Noch Stunden nach dem wunderbaren Geschehen im Tempel waren Ihre Erhabenheit, der Leibmeister und Seine Gnaden Alexis kaum ansprechbar. Und erst am nächsten Tag konnte Seine Exzellenz der Erzkanzler leidlich verständliche Darstellungen von den Augenzeugen erhalten, die er pflichtgemäß in einem der Anhänge zum Rondrarium aufgezeichnete. Obwohl es auch andere Auffassungen gibt, scheint sich der Großteil der Geweihtenschaft einig zu sein, daß es sich bei der Erscheinung um Mythrael, den Erz-Alveraniar und Walkür der Rondra gehandelt hat.
Erst zwei Tage nach dem heiligen Ereignis im Tempel konnte die Totenandacht für Seine Eminenz abgehalten werden. Dieser Göttinnendienst aber, er war eine Zeremonie und ein Fest ohne Gleichen. Von Sonnenaufgang bis weit nach Mitternacht währte das heilige Andenken an den gefallenen Meister des Bundes. Fast jeder auf der Löwenburg schien eine Geschichte und eine Heldentat des großen alten Mannes erzählen zu können, allen voran das Schwert der Schwerter selbst, die auch im Namen Seiner Eminenz Nepolemo ya Torese und des Heermeisters Rondrasil Löwenbrand sprach. Wie sehr fiel es da ins Auge, daß die meisten dieser Erzählungen mehr als 15 Jahre alt waren, aus einer Zeit, als Seine Eminenz Dapifer ter Bredero noch nicht von jener unheilbaren Sieche befallen war.

Da sich die Erhabene zu den letzten Worten Seiner Eminenz ter Bredero nicht äußerte, bat ich Seine Exzellenz den Siegelbewahrer Jaakon von Turjeleff um dessen Meinung. "Ich könnte mir vorstellen,³ so die Worte Seiner Exzellenz, " daß er auf die Zeit der Erhabenen Ayla al-Sabah Sechem, des 12. Schwerts der Schwerter (nach der Zählung von Nebachot) anspielte. Damals hatte der Schwertbund kaum weniger Geweihte als heute. Ich denke aber, daß Ihre Erhabenheit Ayla von Schattengrund sich selbst zur gegebenen Zeit dazu noch äußern wird.³
So mancher Besucher des Löwenkellers spekuliert allerdings auch, daß der Sterbende auf die legendäre erste Amazone Ayla al-Yeshinna angespielt haben könnte. Und heißt nicht die derzeitige Hochgeweihte der Amazonen ebenfalls Ayla mit Vornamen? Und hat diese nicht jüngst das Schwert der Heiligen Yppolita der Hohen Wacht, dem jüngsten der kirchlichen Orden überbracht?
Einige wenige meinen jedoch, daß nicht der Vorname der Erhabenen gemeint war, sondern "von Schattengrund³ - eine Mahnung also die weltliche Politik nicht ganz außer Acht zu lassen? Oder aber: eine Warnung vor Verrat in den eigenen Reihen, denn war es nicht die Nennung ihres Names durch den Geist Viburn von Hengisforts gewesen, der den Verrat Dragosh Corrhensteins entlarvte? (SH Das Herzogtum Weiden, S.10)
Zu guter Letzt traf ich in einer Perricumer Schenke einen mit dem Schwert der Schwerter bekannten Magus, der mich - als wäre es völlig selbstverständlich, daß ein Magus so etwas weiß - daran erinnerte, daß der Weihename Ihrer Erhabenheit "Eiridias³ lautet, was aus dem Bosparanischen übersetzt "Flammentanz³ oder auch "Flammenstrahl³ bedeutet. Augenzwinkernd fügte er hinzu. "Das erklärt doch alles. Er wollte ihr nahelegen in Zukunft auch die Magie auf ihrem Schlachtfeld zu zulassen.³
Wie man sieht, sind die Spekulationen ob der letzten Worte Seiner Eminenz ter Bredero vielfälltig. Von der Seite des Av. Boten möchte ich es hiermit bewenden lassen, denn ich schließe mich der Meinung Seiner Exzellenz des Siegelbewahrers Jaakon von Turjeleff an, indem ich sage, daß die beste Deutung allein von der Erhabenen Ayla von Schattengrund kommen kann.

Die Nachfolge in den Ämtern Dapifer ter Brederos, wird, wie nicht anders zu erwarten war, Nepolemo ya Torese antreten. Tatsächlich hatte der Komtur der Ardariten den kranken Meister des Bundes bereits in den letzten 15 Jahren in beinahe sämtlichen kirchlichen Angelegenheiten aufs Beste vertreten, so daß unter der neuen Führung auch kaum Änderungen zu erwarten sind.


S.Michels